Der St. Moritzer Bahnhof ist ziemlich unprätentiös. Anders als man es von diesem luxuriösen Ferienort vielleicht erwarten würde. Wir steigen in den Bus Richtung Chiavenna. Weil es am Vormittag noch geregnet hat, sind wir später dran als ursprünglich geplant. An der Haltstelle Pranzaira Albigna erwarten uns die Bergführerin und ihre Aspirantin. Eine Gondelbahn bringt uns zur Albigna-Staumauer, von wo der Aufstieg in die Albignahütte nur noch ein Katzensprung ist. Nach einer kurzen Begrüssungsrunde verbringen wir den Rest des Tages mit ersten Instruktionen und Übungen am Fels.

Am zweiten Tag erklettern wir den Gipfel Piz dal Päl. Die geübteren unter uns nehmen die leichte Kletterroute (3a - 4a) zum Anlass, das Klettern in Bergschuhen zu üben. Nach neun Seillängen erwartet uns ein phänomenaler Ausblick über den Albignasee, den Gletscher (Vadrec dal Castel Nord) und die Granitfelsen des Bergeller Massivs. Am Abend gibt es Grillade auf der Terrasse und ein 1. August-Feuer vor der Albignahütte. Aber das schönste Feuerwerk bieten die Blitze der aufkommenden Gewitter, die uns in dieser Nacht erwarten.

Der Freitagmorgen verspricht trocken zu bleiben, bevor die nächsten Gewitterwolken aufziehen. Jene unter uns, die nicht zum Cima da Casnil aufbrechen, nehmen sich bis zum Mittag gleich drei kleinere Gipfel vor! Und zwar die Überschreitung des hüttennahmen Klettergartens. Den Nachmittag verbringen wir spielend, schlafend und kaffetrinkend in der Hütte. Vor dem Abendessen werden noch Sicherungsknoten geübt.

Am Samstag brechen wir kurz vor 5 Uhr noch in der Dunkelheit auf. Der Weg führt ca. eine Stunde ab- und südwärts, bevor knapp über dem Albignasee ein steiler Anstieg Richtung Vadres dal Castel Nord folgt. Wir sind nicht die einzigen, die zur frühen Morgenstunde mit Stirnlampen aufbrechen - wie Glühwürmchen schwirren auch die anderen Bergsteiger hangabwärts. Um halb 6 Uhr erreichen die ersten Sonnenstrahlen die Gipfel über dem Albignasee. Kurz vor 8 Uhr gelangen wir zur Gletscherzunge und rüsten um auf Steigeisen und zwei Seilschaften. Der Anstieg zum Passo dal Cantun dauert ca. 2h und ist nur zum Schluss etwas abschüssig. In unserem Rücken eröffnet sich ein weiter und überwältigender Blick in die Bergeller Pizzos (Pizzo Badile, Pizzo Cengalo, Pizzi dei Vanni, Piz Cacciabella und Sciora Dafora) - schade, dass sich mit Steigeisen schwerlich rückwärts laufen lässt! Und natürlich verlangt auch die straffe Seilschaft einen wachen Blick nach vorne. Doch das Bedauern hält nur kurz an, denn der Anstieg zum Passo dal Cantun wird mit einem Ostblick in die Bergeller Cimas (Cima di Rosso, Cima di Val Bona, Cima di Vazzeda) und ins Oberengadin reichlich belohnt! Von hier wollen wir den Gipfel des Cima dal Cantun erklettern, was uns - nicht zuletzt wegen erneutem Wetterumschwung - nur halbwegs gelingt. Mitten in der Hangeltraverse blasen wir zum Rückzug. Der anschliessende Abstieg über den Fornogletscher wird ca. 100 Höhenmeter unter dem Pass durch ein freiliegendes Granitband unterbrochen. Hier muss abgeseilt werden. Ein kleines Abenteuer für die Gruppe (haben doch einige von uns wenig Erfahrung im Abseilen mit Steigeisen im überhängenden Fels über einem klaffenden Bergschrund!). Der weitere Abstieg verläuft dann aber problemlos. Ein mächtiger Steinschlag zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich - alles scheint hier in der Schmelze zu sein. Der Fornogletscher selbst gleicht einer mäandernden Bachlandschaft. Wunderschön. Aber eben auch traurig, weil einem hier das Abschmelzen der Gletscher unweigerlich vor Augen geführt wird. Und die Augen bleiben nicht die einzigen Zeugen dieser Tatsache - auch unsere Beine bekommen das Gletscherschmelzen an diesem Tag noch zu spüren. Rund 250 Höhenmeter steigen wir am Ende dieses langen Tages zur Fornohütte auf. Laut Hüttenwart lag die Hütte vor 30 Jahren lediglich 50 Meter über dem Gletscher…

Der fünfte und letzte Tag dieser Hochtourenwoche bringt uns zurück nach Maloja. Das Wetter ist gut und unsere Gemüter ebenso. Also beschliessen wir, den sogenannten Panoramaweg (4h) über eine schöne Geländeterrasse und durchs Val Muretto zu gehen anstelle des „normalen“ Abstiegs durchs Val Forno (2.5h). Der Panoramaweg trägt seinen Namen nicht zu Unrecht, gewährt er doch schöne Ausblicke und führt an mehreren Bergseen vorbei! Langsam trotzen die ersten Blümelein den Granitmassen und bald schon finden wir uns in der märchenhaften und üppigen Fauna des Oberengadins wieder - ein traumhafter und fast unwirklicher Anblick nach mehreren Tagen in Fels und Eis. Zum Abschluss springen wir nackt und erleichtert in den kühlen Laj da Cavloc.

Aline Diggelmann